Fachliche Hintergründe
Was geschieht bei der Alexandertechnik in Körper und Geist? Im Rahmen der Alexandertechnik findet ein ganzheitlicher Lernprozess statt, hin zu einer gesünderen und günstigeren körperlich-mentalen Gesamt-Ausrichtung. Das Ziel jeder einzelnen Alexandertechnik-Stunde ist dabei, dass Körper und Nervensystem eine neue Bewegungs-Erfahrung machen, jenseits des Alt-bekannten und Gewohnten. Bewegungsapparat, Gehirn und Nervensystem erhalten im Unterricht entsprechende Impulse und Anregungen, wie bisherige Bewegungen und Aktionen im Rahmen einer gesünderen körperlich-mentalen Gesamt-Ausrichtung auf neue Art und Weise ausgeführt werden können. Dadurch lernen Gehirn und Nervensystem, die Strukturen des Bewegungsapparates auf eine neue und günstigere Art und Weise anzusteuern. Durch Wiederholung, Übung und Integration in den Alltag bilden sich nach und nach neue neuronale und muskuläre Vernetzungen. Es findet ein Lernprozess statt, bei dem alte, ungesunde Bewegungs- und Verhaltensmuster durch neue, günstigere Alternativen ersetzt werden. Auch auf mentaler Ebene lernen wir dabei, bewusster, achtsamer und konstruktiver mit uns selbst und unseren Gedanken umzugehen. Auf längere Sicht verändern sich durch den so erlernten besseren Körpergebrauch auch die körperlichen Strukturen an sich. Wenn beispielsweise eine verkürzte und verkrümmte Wirbelsäule im Laufe der Arbeit wieder zu ihrer natürlichen Aufrichtung findet, berichten viele Klienten, dass Sie infolge der Arbeit „gewachsen“ seien und dass auch ihre Mitmenschen das bemerken. Die beschriebenen Veränderungen in der körperlichen Selbstwahrnehmung gehen oft auch damit einher, dass sich sowohl unsere Sicht auf die Außenwelt, als auch unser mentales Selbstbild positiv verändern. Wir lernen, besser auf uns und unsere Bedürfnisse zu achten und auch auf gedanklicher Ebene konstruktiv, bewusst und achtsam mit uns umzugehen. Was zeichnet einen guten Körper-Gebrauch aus? Eine wesentliche Grunderkenntnis der Alexandertechnik besteht darin, dass alle Funktionen unseres Organismus (Bewegungsapparat, Atmung, Blutkreislauf, Immunsystem und auch mentale Aktivität) dann am besten ablaufen können, wenn unser Körper die größtmögliche Ausdehnung in die Länge und in die Weite einnimmt. Dieser Zustand beinhaltet, dass unsere Wirbelsäule sich in ihre größtmögliche Länge ausrichten kann, gleichzeitig der Rumpf mitsamt Schultergürtel, Brustkorb und Bauchraum die größtmögliche Ausdehnung in die Weite erfahren kann und ebenso die Extremitäten mitsamt ihren Gelenken durchlässig und dynamisch verbunden sind. In diesem Zustand besitzen all unsere muskulären Strukturen einen optimalen und ihrer Funktion entsprechenden Tonus. Unser Körper richtet sich im Wechselspiel mit der Schwerkraft völlig mühelos nach oben auf. Dieser Zustand wird wesentlich davon beeinflusst, ob Kopf, Hals und Rumpf in einem ausgewogenen und dynamischen Verhältnis zueinander stehen. Dieses Verhältnis umfasst die koordinierte Balance des Kopfes auf den oberen Halswirbeln, die Freiheit und Beweglichkeit im Bereich des gesamten Halses und die durchlässige Anbindung des Rumpfes an Kopf und Hals. Da dieses dynamische Verhältnis ein fundamentales Steuerungs-Prinzip für das störungsfreie Funktionieren unseres gesamten Organismus ist, wird es in der Alexandertechnik als „Primär-Steuerung“ („primary control“) bezeichnet. Wird die „Primär-Steuerung“ gestört, so wirkt sich das auf die Balance und Koordination in unserem gesamten Körper aus. Gleichermaßen sind körperliche Blockaden und Dis-Balancen immer an einer Störung der „Primär-Steuerung“ wahrnehmbar. Was zeichnet einen schlechten Körper-Gebrauch aus? Schlechter Körpergebrauch zeichnet sich dadurch aus, dass wir unsere Strukturen verengen und verkürzen. Allzu oft sind wir bei der Erfüllung unserer Aufgaben und der Realisierung unserer Ziele einseitig auf das Endergebnis fixiert und vergessen darüber, auch darauf zu achten, wie wir dabei mit uns umgehen. Leistungsdruck, Stress und übertriebener Perfektions-Anspruch verstärken diese Tendenz: Um ein bestmögliches Resultat unseres Handelns sicherzustellen, wenden wir in unserem Tun unbewusst mehr Anspannung, Kraft und Aktivität auf, als notwendig. Dies wirkt sich auf körperlicher Ebene immer in Form von Verkürzung und Verengung unserer Strukturen, sowie in einer Störung der „Primär-Steuerung“ aus. Unsere Atmung kann dann nicht mehr frei fließen, chronische Verspannungen und vielfältige Überlastungs-Symptome sind langfristige Folgen. Über längere Zeiträume gewöhnen wir uns unbewusst mehr und mehr an diese permanente und latente Überspannung und integrieren sie in unser subjektives Körperempfinden. Einseitige Zielfixiertheit („end-gainig“) Der bemühte und angestrengte Zustand, in dem wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Realisierung eines Endergebnisses fokussieren, und in dem wir vergessen, darüber hinaus auch auf unseren Körper und die Qualität unseres Tuns achtzugeben, wird in der Alexandertechnik als „Zielfixiertheit“ („end-gaining“) bezeichnet. „End-gaining“ kann durchaus als ein gesamt-gesellschaftliches Phänomen bezeichnet werden, das uns von klein auf regelrecht anerzogen wird. Ein plakatives Beispiel aus unseren Schulen soll dies verdeutlichen: Wenn die Kinder in der Grundschule Schreiben lernen, bewertet und belohnt unser Bildungs-System lediglich das erbrachte Endergebnis, nämlich die „Schönheit“ des produzierten Buchstabens. Nicht jedoch berücksichtigt wird die Art und Weise, wie dieser Buchstabe erzeugt wurde. Ob das Kind sich beim Schreiben körperlich verkrümmt, verkrampft und verbogen hat, interessiert unser Schul-System nicht. Somit verlernen wir schon früh, neben dem verfolgten Ziel auch auf unsere gesunde Ausrichtung und die Qualität unseres Handelns achtzugeben. Um einem leider immer wieder anzutreffenden Missverständnis vorzubeugen, soll an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die Alexandertechnik keinesfalls lehrt, keine Ziele mehr zu haben. Die Alexandertechnik ist vielmehr sogar eine Methode, um Ziele zu erreichen! Entscheidend für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden ist jedoch, auf welche Art und Weise wir dabei mit uns umgehen. Die Qualität unseres Tuns Es ist äußerst wichtig, dass wir Ziele haben und dass wir danach streben, sie zu verwirklichen! Fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit dabei jedoch einseitig auf das Endergebnis, schaden wir unserem Körper. Die Alexandertechnik hilft uns, unsere Ziele auf eine gesunde und konstruktive Art und Weise zu erreichen. Anstatt nur einseitig auf das Endergebnis, wird dabei der Fokus auf den Weg dorthin und auf die Mittel gelegt, mit denen wir unser Ziel erreichen können. Infolge der bewussten Konzentration auf die Qualität des Prozesses wird das Ziel ganz automatisch und noch dazu auf gesunde Art und Weise erreicht. Reiz und Reaktion Der Zustand unseres Körpers und unseres gesamten menschlichen Wesens ist fundamental davon abhängig, wie wir auf die Reize unserer Umwelt reagieren. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht: Wir sind ständig von Außenreizen (in der Alexandertechnik sprechen wir von „Stimuli“) umgeben, die eine Interaktion und Reaktion von uns fordern. Diese „Stimuli“ haben immer eine Art Sogwirkung auf uns: Sie ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich und kanalisieren unser Handeln. Je stärker der Stimulus auf uns wirkt, desto impulsiver und heftiger ist unsere unmittelbare und gewohnheitsmäßige Reaktion darauf und desto weniger spüren wir dabei unseren Körper. Ein starker Stimulus bringt uns daher immer in einen Modus des „end-gaining“ („Zielfixiertheit“): Unsere volle Aufmerksamkeit kanalisiert sich auf die Reaktion. Dabei bleibt jedoch kaum mehr Aufmerksamkeit übrig, um überdies auch auf unseren Körper und die Qualität unserer Aktivität achtzugeben. Ein Beispiel: Wir erwarten einen wichtigen Anruf. Plötzlich klingelt das Telefon, wir zucken vielleicht zuerst innerlich ein wenig zusammen, dann springen wir auf, stürzen zum Telefon und greifen hastig zum Hörer. Der „wichtige“ Anruf ist ein starker „Stimulus“: Unmerklich sind wir bereits vorher in einer erwartungsvollen Grund-Anspannung, schließlich wollen oder sogar „dürfen“ wir ihn ja nicht verpassen. Als es klingelt, reagieren wir impulsiv und rennen schnellstmöglich zum Hörer. Starke „Stimuli“ bewirken also in uns, dass unsere Aufmerksamkeit nur noch auf die Reaktion fokussiert ist. Zielfixiert kanalisieren wir unsere gesamte Aktivität auf die Erreichung dieses „Endziels“. Dabei nehmen wir nicht mehr wahr, wie wir innerhalb unserer impulsiven Reaktion mit uns umgehen. Die Folge ist, dass wir unseren Körper nicht mehr spüren und mehr Aktivität, Kraft und Anspannung aufwenden, als zur erfolgreichen Bewältigung der Situation eigentlich „Not-wendig“ wäre. Unnötigerweise verkürzen und verengen wir dadurch unsere körperlichen Strukturen. Wir belasten damit unseren Körper und „gebrauchen“ ihn auf schlechte Art und Weise. Weil wir zu hastig, impulsiv und zielfixiert auf die Außenreize unserer Umwelt reagieren, befinden wir uns im Alltag unnötigerweise in einem Zustand permanenter und latenter körperlicher Anspannung, Verengung und Verkürzung. Vielfältige Beschwerden sind die Folge. „Stimuli“ im Alltag Unser gesamtes Leben ist auf vielfältige Weise gefüllt mit solchen „Stimuli“ und unseren gewohnheitsmäßigen Reaktionen darauf – aber nicht alle können wir so leicht erkennen, wie beispielsweise das plötzliche Klingeln des Telefons! Ein „Stimulus“ kann zum Beispiel auch das Warten an einer roten Ampel sein: Vielleicht müssen wir pünktlich zu einem Termin. Als unbewusste und gewohnheitsmäßige Reaktion auf diese Situation werden wir an der roten Ampel ungeduldig, spannen instinktiv unseren Körper an, halten den Atem fest. Unsere Anspannung verkürzt, verengt und belastet unseren Körper. Das wird uns aber nicht dabei helfen, dass die Ampel schneller grün wird. Oder wir stehen mitten im Berufsverkehr in einer vollen U-Bahn direkt an der Tür. Wir müssen an der nächsten Station umsteigen und sind gedanklich schon damit beschäftigt, welche Treppe wir gleich hinunterlaufen werden, weil möglicherweise unten schon der Anschluss-Zug steht. Um uns herum spüren wir die Anspannung und das Drängeln der anderen Fahrgäste, die auch gleich möglichst schnell aussteigen wollen. Ungeduldig legen wir die Hände an die Türhebel und spannen unmerklich unsere Muskeln an, in Erwartung auf den Moment, wenn die Türe sich öffnet. Die Situation entfaltet ihre „Sogwirkung“: Unser Körper aktiviert schon entsprechende Spannungsmuster, bevor sich die Tür überhaupt geöffnet hat. Möglicherweise sind wir dabei sogar schon so an diese instinktive Reaktion gewöhnt, dass uns unsere unnötige Körper-Spannung in dem Moment gar nicht mehr bewusst ist. Ein „Stimulus“ kann beispielsweise auch das Sitzen am Computer sein: Wir sind konzentriert an der Arbeit, möglicherweise ist das Schriftbild etwas zu klein oder undeutlich, vielleicht sind wir ein bisschen müde. Unmerklich und unbewusst reagieren wir auf diese Situation, kneifen die Augen zusammen, recken den Kopf nach vorne, verspannen damit Nacken und Schultern, beengen Brustraum und Atmung, verkürzen unsere Wirbelsäule. Möglicherweise spannen wir sogar Arme und Hände an oder krallen die Füße in den Boden. Wir reagieren gewohnheitsmäßig, indem wir uns verbiegen, verengen und verkürzen, und oftmals sind wir dabei von unserer Arbeit und dem Bildschirm so vereinnahmt, dass wir es nicht einmal merken. Selbst ganz „unspektakuläre“ Dinge im Alltag, wie ein am Boden liegender Gegenstand, den wir aufheben wollen, oder ein Stuhl, auf den wir uns setzen wollen, üben in schwächerer Form derartige „Sogwirkungen“ auf uns aus, ohne dass uns das bewusst ist. Sie verleiten uns zu unmittelbaren und gewohnheitsmäßigen Reaktionen, die meist einen schlechten Körpergebrauch beinhalten. „Inhibition“ und „Direction“ In der Alexandertechnik lernen wir, mehr Bewusstheit dafür zu entwickeln, wie wir auf die uns umgebenden „Stimuli“ reagieren. Wir sind keineswegs zwangsläufig „Gefangene“ unserer unbewussten und gewohnheitsmäßigen Reaktionsmuster! Die Alexandertechnik zeigt uns vielmehr: Veränderung ist möglich und erlernbar! Die beiden Werkzeuge dafür heißen „Inhibition“ (Innehalten) und „Direction“ (Neu-Ausrichtung). Wenn wir merken, dass ein Außenreiz eine unmittelbare Reaktion in uns auslösen will, stoppen wir unser impulsives Reaktionsmuster und halten stattdessen einen Moment lang inne. Anstatt unmittelbar zu reagieren, tun wir einen Moment lang nichts. Es entsteht ein Moment der Stille, den wir nutzen, um uns und unseren Körper wahrzunehmen und alle unnötige Aktivität und Anspannung loszulassen. Dies ermöglicht uns, unseren Körper bewusst auf eine gute und gesunde Art und Weise auszurichten. Mit dieser neu gewonnenen, guten Ausrichtung tun wir dann das, was in der jeweiligen Situation „Not-wendig“ und angemessen ist. Möglicherweise hat der Moment des Innehaltens auch dazu geführt, dass wir die gesamte Situation inzwischen anders bewerten, als zuvor, und dass folglich unser bewusstes Handeln ganz anders ausfällt, als unsere unmittelbare und impulsive Reaktion! Die beiden Werkzeuge „Inhibition“ und „Direction“ ermöglichen uns, aus eingefahrenen Verhaltensmustern auszubrechen, und geben uns die Freiheit, uns bewusst für einen neuen Weg zu entscheiden. Wenn wir dieses Prinzip mehr und mehr in unser Leben integrieren, können wir den Herausforderungen des Alltags zunehmend mit mehr Präsenz, Gelassenheit und Freiheit begegnen. Wir tragen damit wesentlich dazu bei, dass sich der allgemeine Zustand unseres Körpers verbessert. Wir steigern unsere Lebensqualität und unser Wohlbefinden und fördern unser geistiges und seelisches Wachstum.